Samstag, 15. November 2014

Dienstag, 11.11.2014: Polnischer Unabhängigkeitstag in Warschau

Mein Unabhängigkeitstag war sehr voll. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Die Vorbereitungen gingen (natürlich auch schon viel eher) am Vortag los. Da viele das verlängerte Wochenende zum Verreisen nutzen, waren nicht viele Kinder im Kindergarten und so hatte ich am Montag frei und Zeit, durch die Stadt zu streunern. Am Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego waren die Vorbereitungen in so vollem Gange, dass man hätte meinen können, der Feiertag wäre nicht erst einen Tag später, sondern sofort und auf der Stelle. Das polnische Militärordinariat war in rot und weiß angestrahlt, eine Bilder- und Filmshow kündete von den Ruhmestaten (naja, so wirklich viel Ruhm im Kampf gab es in der polnischen Geschichte ja nicht) des Heeres und der Geschichte Polens im Allgemeinen, sehr starke Scheinwerfer beleuchteten den Platz, des Grabmal des Unbekannten Soldaten war blutrot ausgestrahlt und überall hüpften schnieke Militärs umher, übten das Marschieren in der Formation, das Abstellen von Blumen und Kränzen oder unterwiesen wichtige Politiker (die ich allerdings natürlich alle nicht erkannte), was sie am nächsten Tag zu tun oder zu lassen und wo sie zu sitzen und wann sie zu lächeln hatten.
In der Straße ... waren rot-weiße Banner über die ganze Länge der Straße aufgespannt, sodass man vor polnischen Nationalfarben den Asphalt nicht mehr sah. Selbst die Absperrbänder und Straßenschilder ließen ihre polnische Herkunft heraushängen.


Statur von Józef Piłsudski

Blick auf den Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego
Mahnwache vor dem Präsidentenpalast für die beim Flugzeugabsturz
in Smolensk ums Leben gekommenen Politiker und Militärs

Vor dem Präsidentenpalast hielten wieder Anhänger des rechten Flügels Mahnwache für den 2010 in Smolensk bei einem Flugzeugabsturz verstorbenen Präsidenten Lech Kaczyński und alle weiteren, hochrangigen Politiker und Offiziere, die alle im selben Flugzeug verunglückten. Viele Menschen hatten Flaggen und aus roten und weißen Grablichtern war ein von einem Wappen ummantelten Kreuz gestellt. Ich denke, es soll an das Kreuz erinnern, das einst als Gedenken vor dem Präsidentenpalast stand und dann auf Geheiß des neuen Präsidenten Bronisław Komorowski in die Heilig-Kreuz-Kirche gebracht wurden, weil es vor dem Palast nicht stehen bleiben konnte.

Am nächsten Morgen brach ich sehr früh auf, denn ich wollte 8:30 Uhr an der Józef Piłsudski Statur sein, die am gleichnamigen Platz steht. Ich war knapp dran, aber als ich ankam, sah ich nicht mehr als Aufbauarbeiten und Soundchecks um das Denkmal und das Einrichten von Essständen im sächsischen Garten. Einen Moment hatte ich Angst, ich sei falsch, denn es gibt ein weites Józef Piłsudski Denkmal, doch dann querte ich den Platz und siehe da … da probten die fein herausgeputzen Soldaten wieder das Stehen und Gehen. Seltsamerweise waren keine Leute da. Obwohl der Präsident höchstpersönlich erscheinen sollte. Ein paar Anzugmänner kamen in schwarzen Autos an, schüttelten Hände und warteten. Ein älterer Mann raunte mir zu „Pan Prezydent“ und ich meinte nur „Tak, wiem“ und überlegte, wer von ihnen wohl der Präsident sein würde. Ich hatte mir gerade einen ausgesucht, als ich Sirenen hörte und eine kleine Kolonne angefahren kam. Des Präsidenten Wagen wurde vorn und hinten jeweils von einem Polizei- und einem Security-Wagen eskortiert. Dann stieg er aus und die Politiker stellten sich in einer Reihe vor dem Denkmal auf, während zwei Soldaten den großen, mit roten und weißen Blumen geschmückten Kranz brachten und ablegten. Die Amtshandlung des Präsidenten bestand dann nur noch darin, das bedruckte Schmuckband zu richten. Aus, vorbei, Ende. Es waren etwa 20 Leute da gewesen, Absperrungen gab es keine, nur drei lockere Ringe aus Security, Militär und noch einmal Security. Weil der Präsident aber noch etwas Zeit hatte, kam er auf uns wartende Menschen zu, gab dem einen oder anderen die Hand, verteilte Kokarden in den Nationalfarben und ließ Bilder mit sich schießen. Er kam sehr volksnah und freundlich herüber und als ich später meine Mentorin fragte, bestätigte sie mir, dass die meisten Polen zufrieden mit ihm seien. Nun, den meisten sei der Präsident egal, aber er verursache nichts Schlechtes und versuche immer etwas gemeinsam zu machen, alle Gruppen zu integrieren und den Dialog zu suchen. Er gehört der liberal-konservativen PO (Platforma Obywatelska – Bürgerplattform) an und ist seit August 2010 im Amt. Ich verpasste es leider, mir eine Kokarde abzuholen, aber es war berührend, wie sehr sich diese Menschen freuten, den Präsidenten getroffen zu haben, und wie stolz sie darauf waren.


Chodź Adrian!  Und bitte recht freundlich!

Hernach ging ich zur offiziellen Feiertagsmesse in die Johanneskathedrale in der Altstadt. Am Eingang wurde ich erst einmal kontrolliert. Verständlich, nahm ja auch der Präsident am Gottesdienst teil, aber irgendwie war die Kontrolle nicht sehr gründlich: Ich musste weder alle Fächer meines Rucksacks zeigen, noch suchte irgendjemand in irgendeiner Art nach Waffen an meinem Körper. Nun ja, wie dem auch sei. Die Kirche war gefüllt, aber nicht voll – es gab sogar noch Sitzplätze und natürlich massenhaft Stehplätze – und die Hälfte der Plätze war überdies von Politikern und Militärs okkupiert. Im Chorraum saßen 3 Gruppen, 2 in historischen Gewändern und eine Art Ritterorden. Links und rechts standen immer jeweils 3 Soldaten einer Einheit mit Standarte und hinten verschiedene Gruppen Pfadfinder. Als der Präsident kam, standen alle auf und setzten sich erst mit ihm wieder hin. Aber da ging die Messe auch schon los und der Militärbischof der polnischen Streitkräfte, Józef Guzdek, zog ein. Nach dem Einzug wurde die Nationalhymne gespielt und alle Soldaten präsentierten Säbel und Standarten.



Die meisten Aufgaben in der Messe übernahmen auch Soldaten: Stab und Mitra, den Altardienst, die Lesung und Fürbitten sowie die musikalische Gestaltung mit Blasorchester und Chor. Was mir während des Hochgebetes auffiel, war, dass keineswegs ein Ministrant das Weihrauchfass hielt, sondern vielmehr der Weihrauch einfach vor dem Hochgebet vorm Altar abgestellt und danach wieder aufgenommen wurde. Alles in allem war die Messe vom Ablauf her schlicht, von der Ausgestaltung jedoch nichtsdestotrotz feierlich, wenn auch sehr militarisiert. Und ich frage mich dann: Natürlich sind in Polen (fast) alle katholisch – zumindest auf dem Papier – aber wo bleibt denn da die Trennung von Kirche und Staat? Ja, das ist ein Grund, warum so viele nicht in diese, für meine Begriffe doch bedeutende (da an einem wichtigen Feiertag und mit wichtigen Persönlichkeiten) Messe kommen – weil es ihnen zum Halse heraushängt, dass die Kirche zu sehr über Politik predigt oder einzelne Priester sogar offenen Wahlkampf betreiben und weil sie keine Messe besuchen wollen, die durch Politiker „verschmutzt“ ist, wie es meine Mentorin bezeichnete.
Ich hatte nun eine ganze Weile Zeit und schaute zum Bieg Niepodległości, dem Unabhängigkeits­lauf, an dem man ganz verschieden teilnehmen konnte, als Läufer, als Walker, als Sicherheitsmann … nee, gut. Das Schöne am Lauf ist, dass die Starter weiße und rote Trikots tragen und alle weißen Läufer auf einer Seite starten und die roten auf der anderen, sodass die laufende Masse idealerweise die Polenflagge auf den Asphalt malt. Je nachdem, wie sehr sich die Läufer unterwegs schon durchmischt hatten, klappte das besser oder schlechter, doch die Atmosphäre der anfeuernden Menge war wunderbar. Und wie immer liefen auch diesmal wieder Väter mit Kinderwägen oder 100-Jährige mit.


Gegen 12:00 Uhr erreichte ich mein nächstes Ziel, das ehemalige Pawiak-Gefängnis, wo heute noch eine Original-Mauer, ein Museum und eine Gedenkstätte stehen. Auch hier sollten Blumen niedergelegt werden und wieder staunte ich, wie wenig Leute gekommen waren. Wir waren zu zwölft, davon waren 3 Soldaten gezwungenermaßen da und zwei Organisatoren zum Fotografieren und Aufpassen. Es war also sehr leer, als die aktuelle Erziehungsministerin und Gründerin der PJN (Polska Jest Najważniejsza – Polen ist das Wichtigste), Joanna Kluzik-Rostkowska, zusammen mit einem ehemaligen Häftling des Gefängnisses einen Kranz niederlegte, gefolgt von der stellvertretenden Programmdirektorin des Unabhängigkeitsmuseums Jolanta Dąbek. Dies alles dauerte nicht lange und nachdem ich mir hatte erklären lassen, wer die ganzen Personen hier wären (denn natürlich kannte ich sie nicht …), kehrte ich zum Denkmal des Unbekannten Soldaten zurück, denn dort würde die offizielle Parade starten und vorher eine weitere Kranzniederlegung samt Militärpräsentation stattfinden.


Im blauen Mantel: Joanna Kluzik-Rostkowska

Es war sehr voll und da die Präsentation schon begonnen hatte, bekam ich keinen guten Platz zum Sehen. Es gab aber auch nicht so viel zu sehen, nur brav aufgestellte Soldaten und eine nicht enden wollende Schlange Politiker, die Blumenkränze zum Denkmal brachten, ja, es gab nicht einmal etwas zu hören außer der Rede des Präsidenten, von der ich natürlich nicht so viel verstand – keine schöne Musik, nur das monotone Trommeln, damit die Gedenkschlange ordentlich im Takt marschierte – und so kaufte ich mir obwarzanki, setzte mich in den Park und schaute dem bunten Treiben zu. Überall konnte man Flaggen in verschiedenen Größen, Kokarden oder Schleifchen erwerben und auch für das leibliche Wohl war durch warmen Käse, Kringel oder Zuckerwatte gesorgt. Auffallend war, dass verhältnismäßig viele Kinder in Militärkleidung gesteckt waren: Ich sage verhältnismäßig, weil es nicht überhand nahm, aber es war doch auffällig. Gerade bei den jüngeren Kindern (4-10 Jahre) war die Verkleidung offensichtlich. Doch ich mir geriet auch eine Gruppe Mädchen unter die Augen, deren Uniformen so perfekt waren, dass ich echt zu überlegen begann, ob es militärische Jugendgruppen gab. Meine Mentorin verneinte das – vielleicht seien es Pfadfinder gewesen? Aber nein, Pfadfinder haben andere Uniformen … ich war und bin noch immer dezent verwirrt. Ich überlege ernsthaft, ob die Jugendlichen (ca. 12-16 Jahre) Waffen bei sich trugen. Leider habe ich kein Foto gemacht …


Grab des Unbekannten Soldaten

Man beachte die Scharfschützen ...

Viertel zwei traf ich mich mit meiner Mentorin Wanda am Springbrunnen im Sächsischen Garten. Es war auch ihre erste Parade und so wussten wir beide nicht so recht, was uns erwarten würde. Ich hatte von den letzten Jahren gelesen, dass Soldaten in historischen Kostümen mitgehen würden, und außerdem hatte ich Bilder von berittenen Militärs gesehen. Meine Erwartungen waren also hoch … und wurden bitter enttäuscht. Vier militärische Einheiten (Heer, Luftwaffe, Marine und Spezialkräfte) bildeten die Spitze, allen voran das Musikkorps. Dann folgten zwei schwarze Führungswagen, ein Unterhaltungsbus, der die ganze Sache ein bisschen mit Moderation und Gesang aufheiterte, dann kam der Militärchor, die Politiker und dann … schon ganz viele Menschen. Keine historischen Soldaten. Keine Reiter. Ich war sooo traurig …
Nun gut, da wir beide kein Interesse daran hatten, in der Menschenmenge mitzulaufen, überholten wir den Zug immer wieder, um ihn erneut von vorne sehen zu können. Wanda meinte, sie habe noch nie so viele Politiker mit eigenen Augen gesehen … da ich die ganzen wichtigen Leute ja aber nicht erkannte, ging es mir nicht ganz so.
Die Parade, deren Träger übrigens offiziell der Präsidenten ist, stoppte an verschiedenen Denkmälern, die wir passierten, z.B. des Kardinals Stefan Wyszyński, der in den 80er Jahren entscheidend zwischen Solidarność und kommunistischer Regierung vermittelte und in Polen als Symbolgestalt des geistigen Widerstandes gilt, des ehemaligen Ministerpräsidenten Ignacy Jan Paderewski und schließlich am Denkmal des Marschalls und ersten Präsidenten Polens Józef Piłsudski. Und an allen Stationen gab es Kranzniederlegungen, kleine Reden und Musik. Kein Wunder, dass der Präsident nach den fast 2,5h Marsch reichlich geschafft aussah, als er seine Abschlussrede begann, zumal die geplante Zeit schon mehr als 30min überschritten war.




Am Denkmal von Wincenty Witos, dessen Regierung
1926 durch den Maiputsch Piłsudskis gestürzt wurde


Ein Blick in die Suppenküche

Zum Abschluss wurde noch einmal die Nationalhymne gespielt, diesmal auch alle Strophen. Überraschenderweise sang niemand mit. Okay, ich sag mal … der Präsident sang ordentlich alle Strophen und die Politiker im Blickfeld der Übertragungskamera bewegten wenigsten ihren Mund, ab der zweiten Strophe haperte es dann aber schon mit dem Text. In meinem näheren und weiteren Umfeld war ich der einzige, der die Melodie auch nur im geringsten mitsummte (denn natürlich kenne ich den Text nicht) und erntete dafür schon erstaunte Blicke. Was mich verwundete, denn ich dachte immer, Polen seien so stolz auf ihr Land und die Hymne zu singen zeigt so viel Patriotismus. Selbst in Deutschland stimmt jeder in die Hymne ein, selbst wenn man sich sonst nicht so wirklich traut, Flagge zu zeigen.
Und dann war es auch schon vorbei, das Militär zog geordnet ab, es wurden noch ein paar Hände geschüttelt und der Militärchor bot ein paar schöne Stücke dar. Es war schon ziemlich dunkel. Ich überlegte, wie ich am besten zu dem rechten Marsch gelangen könnte, aber der befand sich am anderen Ende der Innenstadt und so begnügte ich mich damit, meine Suppe zu essen und den Heimweg anzutreten. Ja, in den vielen Verpflegungszelten, die die Straße säumten, wurden kostenlos für alle Paradeteilnehmer Żurek und Grochówka, also Erbsensuppe, ausgeschenkt.

Obwohl ich ihn dann doch nicht besucht habe, möchte ich es nicht versäumen, über den rechten Marsch zu berichten, der in diesem Jahr auch die deutschen Nachrichten erreichte. Der Marsz Niepodległości, nicht zu verwechseln mit der offiziellen Parade, dem Marsz „Razem dla Niepodległej“, führt seit 2010 alljährlich durch die Straßen Warschaus und zieht zehntausende Teilnehmer aus ganz Polen an. Dieses Jahr nahmen 50.000 Menschen an dem Zug teil. Mittlerweile typisch geworden sind die Krawalle und Ausschreitungen mit der Polizei, zu denen es stets kommt, so wurden die letzten beiden Jahre der Regenbogen in Brand gesteckt und letztes wie auch dieses Jahr die russische Botschaft angegriffen, indem sie mit Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails beworfen wurde. Mehrere Wachhäuschen sowie unzählige Autos sind während der ganzen Veranstaltung in Flammen aufgegangen, etwa 5.000 schwer bewaffnete Polizisten waren im Einsatz, von denen 25 verletzt wurden, und knapp 300 Hooligans wurden vorläufig festgenommen, nachdem sie sich mit den Ordnungshütern eine zweistündige Straßenschlacht vor dem Nationalstadion geliefert hatten. Die traurige Bilanz eines Tages, an dem eigentlich der freudige Umstand der Unabhängigkeit des eigenen Landes gefeiert werden sollte. Immerhin ist Polen nun schon seit 96 Jahren ein souveräner Staat, nachdem es für 123 Jahre zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt gewesen war. Ende des zweiten Weltkriegs nämlich, im Frühjahr des Jahres 1918, hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn von Russland die staatliche Unabhängigkeit Polens gefordert, was auch vom amerikanischen 14-Punkte-Programm unterstützt wurde, und so wurde Józef Piłsudski, nachdem er aus der deutschen Haft in Magdeburg entlassen worden war, zum ersten polnischen „Präsidenten“. Die ersten freien Wahlen zum verfassungsgebenden Sejm fanden im Januar 1919 statt und bestätigten Piłsudski als Staatsoberhaupt, weshalb er in Polen eine wichtige Persönlichkeit ist und die Parade gleich zwei seiner Denkmäler ehrte.



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