Mein Unabhängigkeitstag
war sehr voll. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen.
Die Vorbereitungen gingen (natürlich auch schon viel eher) am Vortag
los. Da viele das verlängerte Wochenende zum Verreisen nutzen, waren
nicht viele Kinder im Kindergarten und so hatte ich am Montag frei
und Zeit, durch die Stadt zu streunern. Am Plac
Marszałka Józefa Piłsudskiego
waren die Vorbereitungen in so vollem
Gange, dass man hätte meinen können, der Feiertag wäre nicht erst
einen Tag später, sondern sofort und auf der Stelle. Das polnische
Militärordinariat war in rot und weiß angestrahlt, eine Bilder- und
Filmshow kündete von den Ruhmestaten (naja,
so wirklich viel Ruhm im Kampf gab es in der polnischen Geschichte ja
nicht) des Heeres und der Geschichte Polens im Allgemeinen, sehr
starke Scheinwerfer beleuchteten den Platz, des Grabmal des
Unbekannten Soldaten war blutrot ausgestrahlt und überall hüpften
schnieke Militärs
umher, übten das Marschieren in der Formation, das Abstellen von
Blumen und Kränzen oder unterwiesen wichtige Politiker (die ich
allerdings natürlich alle nicht erkannte), was sie am nächsten Tag
zu tun oder zu lassen und wo sie zu sitzen und wann sie zu lächeln
hatten.
In der
Straße ...
waren
rot-weiße Banner über die ganze Länge der Straße aufgespannt,
sodass man vor polnischen Nationalfarben den Asphalt nicht mehr sah.
Selbst die Absperrbänder und Straßenschilder ließen ihre polnische
Herkunft heraushängen.
Statur von Józef Piłsudski |
Blick auf den Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego |
Mahnwache vor dem Präsidentenpalast für die beim Flugzeugabsturz in Smolensk ums Leben gekommenen Politiker und Militärs |
Vor
dem Präsidentenpalast hielten wieder Anhänger des rechten Flügels
Mahnwache für den 2010 in Smolensk bei einem Flugzeugabsturz
verstorbenen Präsidenten Lech Kaczyński
und alle weiteren, hochrangigen Politiker und Offiziere, die alle im
selben Flugzeug verunglückten. Viele Menschen hatten Flaggen und aus
roten und weißen Grablichtern war ein von einem Wappen ummantelten
Kreuz gestellt. Ich denke, es soll an das Kreuz erinnern, das einst
als Gedenken vor dem Präsidentenpalast stand und dann auf Geheiß
des neuen Präsidenten Bronisław
Komorowski in die Heilig-Kreuz-Kirche gebracht wurden, weil es vor
dem Palast nicht stehen bleiben konnte.
Am
nächsten Morgen brach ich sehr früh auf, denn ich wollte 8:30 Uhr
an der Józef Piłsudski
Statur sein, die am gleichnamigen Platz steht. Ich war knapp dran,
aber als ich ankam, sah ich nicht mehr als Aufbauarbeiten und
Soundchecks um das Denkmal und das Einrichten von Essständen im
sächsischen Garten. Einen Moment hatte ich Angst, ich sei falsch,
denn es gibt ein weites Józef
Piłsudski
Denkmal, doch dann querte ich den Platz und siehe da … da probten
die fein herausgeputzen Soldaten wieder das Stehen und Gehen.
Seltsamerweise waren keine Leute da. Obwohl der Präsident
höchstpersönlich erscheinen sollte. Ein
paar Anzugmänner kamen in schwarzen Autos an, schüttelten Hände
und warteten. Ein älterer Mann raunte mir zu „Pan Prezydent“ und
ich meinte nur „Tak, wiem“ und überlegte, wer von ihnen wohl der
Präsident sein würde. Ich hatte mir gerade einen ausgesucht, als
ich Sirenen hörte und eine kleine Kolonne angefahren kam. Des
Präsidenten Wagen wurde vorn und hinten jeweils von einem Polizei-
und einem Security-Wagen eskortiert. Dann stieg er aus und die
Politiker stellten sich in einer Reihe vor dem Denkmal auf, während
zwei Soldaten den großen, mit roten und weißen Blumen geschmückten
Kranz brachten und ablegten. Die Amtshandlung des Präsidenten
bestand dann nur noch darin, das bedruckte Schmuckband zu richten.
Aus, vorbei, Ende. Es waren etwa 20 Leute da gewesen, Absperrungen
gab es keine, nur drei lockere Ringe aus Security, Militär und noch
einmal Security. Weil der Präsident aber noch etwas Zeit hatte, kam
er auf uns wartende Menschen zu, gab dem einen oder anderen die Hand,
verteilte Kokarden in den Nationalfarben und ließ Bilder mit sich
schießen. Er kam sehr
volksnah und freundlich herüber und als ich später meine Mentorin
fragte, bestätigte sie mir, dass die meisten Polen zufrieden mit ihm
seien.
Nun, den meisten sei der Präsident egal, aber er verursache
nichts Schlechtes und versuche immer etwas gemeinsam zu machen, alle
Gruppen zu integrieren und den Dialog zu suchen. Er
gehört der liberal-konservativen PO (Platforma
Obywatelska
– Bürgerplattform) an und ist seit August 2010 im Amt. Ich
verpasste es leider, mir eine Kokarde abzuholen, aber es war
berührend, wie sehr sich diese Menschen freuten, den Präsidenten
getroffen zu haben, und wie stolz sie darauf waren.
Chodź Adrian! – Und bitte recht freundlich! |
Hernach
ging ich zur offiziellen Feiertagsmesse in die Johanneskathedrale in
der Altstadt. Am
Eingang wurde ich erst einmal kontrolliert. Verständlich, nahm ja
auch der Präsident am Gottesdienst teil, aber irgendwie war die
Kontrolle nicht sehr gründlich: Ich musste weder alle Fächer meines
Rucksacks zeigen, noch suchte irgendjemand in irgendeiner Art nach
Waffen an meinem Körper. Nun ja, wie dem auch sei. Die Kirche war
gefüllt, aber nicht voll – es gab sogar noch Sitzplätze und
natürlich massenhaft Stehplätze – und die Hälfte der Plätze war
überdies von Politikern und Militärs okkupiert. Im Chorraum saßen
3 Gruppen, 2 in historischen Gewändern und eine Art Ritterorden.
Links und rechts standen immer jeweils 3 Soldaten einer Einheit mit
Standarte und hinten verschiedene Gruppen Pfadfinder. Als der
Präsident kam, standen alle auf und setzten sich erst mit ihm wieder
hin. Aber da ging die Messe auch schon los und
der Militärbischof der polnischen Streitkräfte, Józef Guzdek, zog
ein. Nach dem Einzug wurde die Nationalhymne gespielt und alle
Soldaten präsentierten Säbel und Standarten.
Die
meisten Aufgaben in der Messe übernahmen auch Soldaten: Stab und
Mitra, den Altardienst, die Lesung und Fürbitten sowie die
musikalische Gestaltung mit Blasorchester und Chor. Was mir während
des Hochgebetes auffiel, war, dass keineswegs ein Ministrant das
Weihrauchfass hielt, sondern vielmehr der Weihrauch einfach vor dem
Hochgebet vorm Altar abgestellt und danach wieder aufgenommen wurde.
Alles
in allem war die Messe vom Ablauf her schlicht, von der Ausgestaltung
jedoch nichtsdestotrotz feierlich, wenn auch sehr militarisiert. Und
ich frage mich dann: Natürlich sind in Polen (fast) alle katholisch
– zumindest auf dem Papier – aber wo bleibt denn da die Trennung
von Kirche und Staat? Ja, das ist ein Grund, warum so viele nicht in
diese, für meine Begriffe doch bedeutende (da an einem wichtigen
Feiertag und mit wichtigen Persönlichkeiten) Messe kommen – weil
es ihnen zum Halse heraushängt, dass die Kirche zu sehr über
Politik predigt oder einzelne Priester sogar offenen Wahlkampf
betreiben und weil sie keine Messe besuchen wollen, die durch
Politiker „verschmutzt“ ist, wie es meine Mentorin bezeichnete.
Ich
hatte nun eine ganze Weile Zeit und schaute zum Bieg
Niepodległości,
dem Unabhängigkeitslauf,
an dem man ganz verschieden teilnehmen konnte, als Läufer, als
Walker, als Sicherheitsmann … nee, gut. Das Schöne am Lauf ist,
dass die Starter weiße und rote Trikots tragen und alle weißen
Läufer auf einer Seite starten und die roten auf der anderen, sodass
die laufende Masse idealerweise die Polenflagge auf den Asphalt malt.
Je nachdem, wie sehr sich die Läufer unterwegs schon durchmischt
hatten, klappte das besser oder schlechter, doch die Atmosphäre der
anfeuernden Menge war wunderbar. Und wie immer liefen auch diesmal
wieder Väter mit Kinderwägen oder 100-Jährige mit.
Im blauen Mantel: Joanna Kluzik-Rostkowska |
Es war sehr voll und da die
Präsentation schon begonnen hatte, bekam ich keinen guten Platz zum
Sehen. Es gab aber auch nicht so viel zu sehen, nur brav aufgestellte
Soldaten und eine nicht enden wollende Schlange Politiker, die
Blumenkränze zum Denkmal brachten, ja, es gab nicht einmal etwas zu
hören außer der Rede des Präsidenten, von der ich natürlich nicht
so viel verstand – keine schöne Musik, nur das monotone Trommeln,
damit die Gedenkschlange ordentlich im Takt marschierte – und so
kaufte ich mir obwarzanki, setzte mich in den Park und
schaute dem bunten Treiben zu. Überall konnte man Flaggen in
verschiedenen Größen, Kokarden oder Schleifchen erwerben und auch
für das leibliche Wohl war durch warmen Käse, Kringel oder
Zuckerwatte gesorgt. Auffallend war, dass verhältnismäßig viele
Kinder in Militärkleidung gesteckt waren: Ich sage verhältnismäßig,
weil es nicht überhand nahm, aber es war doch auffällig. Gerade bei
den jüngeren Kindern (4-10 Jahre) war die Verkleidung
offensichtlich. Doch ich mir geriet auch eine Gruppe Mädchen unter
die Augen, deren Uniformen so perfekt waren, dass ich echt zu
überlegen begann, ob es militärische Jugendgruppen gab. Meine
Mentorin verneinte das – vielleicht seien es Pfadfinder gewesen?
Aber nein, Pfadfinder haben andere Uniformen … ich war und bin noch
immer dezent verwirrt. Ich überlege ernsthaft, ob die Jugendlichen
(ca. 12-16 Jahre) Waffen bei sich trugen. Leider habe ich kein Foto
gemacht …
Grab des Unbekannten Soldaten |
Man beachte die Scharfschützen ... |
Viertel zwei traf ich mich mit
meiner Mentorin Wanda am Springbrunnen im Sächsischen Garten. Es war
auch ihre erste Parade und so wussten wir beide nicht so recht, was
uns erwarten würde. Ich hatte von den letzten Jahren gelesen, dass
Soldaten in historischen Kostümen mitgehen würden, und außerdem
hatte ich Bilder von berittenen Militärs gesehen. Meine Erwartungen
waren also hoch … und wurden bitter enttäuscht. Vier militärische
Einheiten (Heer, Luftwaffe, Marine und Spezialkräfte) bildeten die
Spitze, allen voran das Musikkorps. Dann folgten zwei schwarze
Führungswagen, ein Unterhaltungsbus, der die ganze Sache ein
bisschen mit Moderation und Gesang aufheiterte, dann kam der
Militärchor, die Politiker und dann … schon ganz viele Menschen.
Keine historischen Soldaten. Keine Reiter. Ich war sooo traurig …
Nun gut, da wir beide kein
Interesse daran hatten, in der Menschenmenge mitzulaufen, überholten
wir den Zug immer wieder, um ihn erneut von vorne sehen zu können.
Wanda meinte, sie habe noch nie so viele Politiker mit eigenen Augen
gesehen … da ich die ganzen wichtigen Leute ja aber nicht erkannte,
ging es mir nicht ganz so.
Die Parade, deren Träger
übrigens offiziell der Präsidenten
ist, stoppte an verschiedenen Denkmälern,
die wir passierten, z.B. des Kardinals Stefan Wyszyński, der in den
80er Jahren entscheidend zwischen Solidarność und
kommunistischer Regierung vermittelte und in Polen als Symbolgestalt
des geistigen Widerstandes gilt, des ehemaligen Ministerpräsidenten
Ignacy Jan Paderewski und schließlich am Denkmal des Marschalls und
ersten Präsidenten Polens Józef Piłsudski. Und an allen Stationen
gab es Kranzniederlegungen, kleine Reden und Musik. Kein Wunder, dass
der Präsident nach den fast 2,5h Marsch reichlich geschafft aussah,
als er seine Abschlussrede begann, zumal die geplante Zeit schon mehr
als 30min überschritten war.
Am Denkmal von Wincenty Witos, dessen Regierung 1926 durch den Maiputsch Piłsudskis gestürzt wurde |
Ein Blick in die Suppenküche |
Zum Abschluss wurde noch einmal
die Nationalhymne gespielt, diesmal auch alle Strophen.
Überraschenderweise sang niemand mit. Okay, ich sag mal … der
Präsident sang ordentlich alle Strophen und die Politiker im
Blickfeld der Übertragungskamera bewegten wenigsten ihren Mund, ab
der zweiten Strophe haperte es dann aber schon mit dem Text. In
meinem näheren und weiteren Umfeld war ich der einzige, der die
Melodie auch nur im geringsten mitsummte (denn natürlich kenne ich
den Text nicht) und erntete dafür schon erstaunte Blicke. Was mich
verwundete, denn ich dachte immer, Polen seien so stolz auf ihr Land
und die Hymne zu singen zeigt so viel Patriotismus. Selbst in
Deutschland stimmt jeder in die Hymne ein, selbst wenn man sich sonst
nicht so wirklich traut, Flagge zu zeigen.
Und dann war es auch schon
vorbei, das Militär zog geordnet ab, es wurden noch ein paar Hände
geschüttelt und der Militärchor bot ein paar schöne Stücke dar.
Es war schon ziemlich dunkel. Ich überlegte, wie ich am besten zu
dem rechten Marsch gelangen könnte, aber der befand sich am anderen
Ende der Innenstadt und so begnügte ich mich damit, meine Suppe zu
essen und den Heimweg anzutreten. Ja, in den vielen
Verpflegungszelten, die die Straße säumten, wurden kostenlos für
alle Paradeteilnehmer Żurek und Grochówka, also Erbsensuppe,
ausgeschenkt.
Obwohl ich ihn dann doch nicht
besucht habe, möchte ich es nicht versäumen, über den rechten
Marsch zu berichten, der in diesem Jahr auch die deutschen
Nachrichten erreichte. Der Marsz Niepodległości,
nicht zu verwechseln mit der offiziellen Parade, dem Marsz
„Razem dla Niepodległej“, führt seit 2010 alljährlich
durch die Straßen Warschaus und zieht zehntausende Teilnehmer aus
ganz Polen an. Dieses Jahr nahmen 50.000 Menschen an dem Zug teil.
Mittlerweile typisch geworden sind die Krawalle und Ausschreitungen
mit der Polizei, zu denen es stets kommt, so wurden die letzten
beiden Jahre der Regenbogen in Brand gesteckt und letztes wie auch
dieses Jahr die russische Botschaft angegriffen, indem sie mit
Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails beworfen wurde. Mehrere
Wachhäuschen sowie unzählige Autos sind während der ganzen
Veranstaltung in Flammen aufgegangen, etwa 5.000 schwer bewaffnete
Polizisten waren im Einsatz, von denen 25 verletzt wurden, und knapp
300 Hooligans wurden vorläufig festgenommen, nachdem sie sich mit
den Ordnungshütern eine zweistündige Straßenschlacht vor dem
Nationalstadion geliefert hatten. Die traurige Bilanz eines Tages, an
dem eigentlich der freudige Umstand der Unabhängigkeit des eigenen
Landes gefeiert werden sollte. Immerhin ist Polen nun schon seit 96
Jahren ein souveräner Staat, nachdem es für 123 Jahre zwischen
Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt gewesen war.
Ende des zweiten Weltkriegs nämlich, im Frühjahr des Jahres 1918,
hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn von
Russland die staatliche Unabhängigkeit Polens gefordert, was auch vom
amerikanischen 14-Punkte-Programm unterstützt wurde, und so wurde
Józef Piłsudski, nachdem er aus der deutschen Haft in Magdeburg
entlassen worden war, zum ersten polnischen „Präsidenten“. Die
ersten freien Wahlen zum verfassungsgebenden Sejm fanden im Januar
1919 statt und bestätigten Piłsudski als Staatsoberhaupt, weshalb
er in Polen eine wichtige Persönlichkeit ist und die Parade gleich
zwei seiner Denkmäler ehrte.
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