Es wird Zeit, dass ich
mein erstes Kind vorstelle. Wir haben in unserem Kindergarten gleich
zwei Buben mit einer extrem seltenen Behinderung, dem Lowe-Syndrom.
Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser X-chromosomal vererbten
Multisystemerkrankung geboren zu werden, liegt bei etwa 0,00002%,
d.h. bei etwa jeder 50.000te kommt es zum Ausbruch. Durch die
X-chromosomale Vererbung sind (fast) ausschließlich Jungen betroffen
und zwei von vier Lowe-Syndrom-Jungen in Polen verbringen ihren Tag
mit uns, einer in meiner Gruppe, Stanisław oder
kurz einfach nur Staś.
Staś
ist ein süßer Junge mit kurzen, blonden
Haaren, einem kleinen Froschbäuchlein
(was wohl auch an seiner Vorliebe liegt, nur die Wurst vom Brot zu
essen und das Brot wieder aus seinem Mund zu pulen) und einer
grünen Brille, an der eine Seite zugehangen ist. Die ersten drei
Tage meiner Arbeit hatten wir noch eine Schildkröte in unserem Raum
und er lag den ganzen Tag nur vor dem Aquarium und schaute sich das
Tierlein an. Auch den Fisch-Aquarien in der
blauen und gelben Gruppe kann er viel abgewinnen – während andere
Kinder sich über das ungewohnte Spielzeug freuen, wenn sie in einen
neuen Raum kommen, stellt sich Staś prompt
vor den hell erleuchteten Glaskasten und schaut gespannt hinein und
man muss ihn beim Zurückgehen regelrecht von der Scheibe wegzerren.
Das hängt natürlich mit dem Syndrom zusammen. Von der Erkrankung
sind z.B. die Augen betroffen. Alle Kinder werden bereits mit
Katarakt (grauem Star) geboren, der sich bereits in utero (in der
Gebärmutter) entwickelt hat. Etwa 50% der Kinder haben auch ein
Glaukom (grünen Star),
weshalb sie schlecht sehen können und teure Spezialbrillen tragen
müssen. Staś sieht
außerdem auf den linken Auge schlechter, weshalb er das Augenlid
nicht richtig öffnet. Deshalb ist sein rechtes Auge abgedeckt, damit
er gezwungen ist, das linke zu benutzen und die Muskeln trainiert.
Die fortschreitende Blindheit hat zur Folge, dass die Kinder bei
normalem Licht kaum sehen. Je stärker die Lichteinstrahlung aber
ist, desto eher können sie etwas erkennen. Deshalb liebt Staś
es, vor den hell erleuchteten Aquarien zu
stehen, weil das für ihn wie Kino ist, weil er endlich mal etwas
sehen kann, weil das für ihn ein sehr großes WOW-Erlebnis ist.
Als
unsere
Schildkröte ausziehen musste, weil sie zu groß geworden war und
einen ausgedehnteren Lebensraum
brauchte, machte Staś sich
eine Spielzeugschildkröte zu eigen, die Musik spielt, wenn man auf
verschiedene Tasten drückt. Diese Musik ist sehr laut und spielt
ununterbrochen, sodass ich schon nach einem Tag jede Melodie
mitsingen konnte. Wenn wir gerade Unterricht
haben und die Schildkröte am Kopf
ausgedreht wird, sucht er sich eben ein neues Musikspielzeug –
davon haben wir wahrlich genug
– und dann tönt
statt „Oh, du lieber Augustin“ eben „Old MacDonald has a farm“
durch den Raum.
Trotz
seiner Liebe zu Musikspielzeugen mag er den alltäglichen
Musikunterricht nicht. In dieser Musikstunde kommen die Kinder aus 3
Gruppen zusammen und wir hören uns zusammen polnische Kinderlieder
an, jeder, der kann, singt auch mit, und wir animieren die Kinder zum
Tanzen oder zu zum Lied passenden Bewegungen. Durch die Bewegungen
fällt es den Kindern leichter, sich an die Lieder zu erinnern und
außerdem verstehen sie so besser, worum es geht. Staś
aber fängt an zu speckern, wenn der Raum
immer voller wird und je lauter wir singen und je heftiger wir
tanzen, desto eher läuft er zur Tür und versucht abzuhauen oder er
setzt sich in die Ecke, hält sich die Ohren zu und weint sogar. Der
andere Junge mit Lowe-Syndrom kommt gar nicht erst, weil auch ihm der
Musikunterricht nicht gefällt. Warum das
so ist, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht fühlen sie
sich von der Menschenmenge überfordert, eigentlich gelten
Lowe-Syndrom-Jungen aber als sehr kontaktfreudig.
Ja,
unser Staś ist
nicht sehr kontaktfreudig, eher ein eigenbrötlerischer Einzelgänger.
Durch seine geistige Behinderung kann er nicht sprechen, obwohl er
manchmal wortähnliche Laute von sich gibt, sodass ich ihm durchaus
Chancen ausgemalt hätte,
das Sprechen noch zu lernen. Seine
Logopädin Paulina meint aber, dass er nicht sprechen lernen wird.
Dafür kann er mit seinen 7 Jahren einfach zu wenige Laute erzeugen,
die in der polnischen Sprache vorkommen und wenn er Laute von sich
gibt, sind sie nur selten realen Wörtern ähnlich – seine
„Sprache“ ist nicht funktional.
Er weist aber
auch Verhaltensstörungen auf, z.B. legt er sich, wenn er sich freut,
auf den Rücken, gakelt mit den Armen in der Luft herum und gibt
lachend-glucksende Geräusche von sich. Wenn man aber etwas tut, was
ihm nicht gefällt (wenn man ihn also nicht aus dem Raum gehen lässt,
ihm seine Schildkröte nicht anmacht oder sich sogar anmaßt, ihm zum
Essen ein Lätzchen umzubinden), dann lässt er sich auf den Boden
fallen, kullert sich schreiend herum oder haut sich mit der einen
flachen Hand auf den Kopf, während er gleichzeitig in die andere
Faust beißt. Man sollte ihn dann besser nicht durch Festhalten von
seinem Verhalten abzubringen versuchen, sondern einfach alle
gefährlichen Gegenstände aus seiner Nähe entfernen und ihn sich
abreagieren lassen. Ich denke, dass das bereits eine Vorstufe zu den
epileptischen Anfällen ist, die viele Erkrankte
etwa ab dem 18ten Lebensjahr regelmäßig haben.
Während viele
Lowe-Syndrom-Kinder mit einer ernsthaften Muskelhypotonie geboren
werden, d.h. besonders ihre quergestreifte Muskulatur ist schwach und
steht zu wenig unter Spannung, habe
ich bei
Staś
noch
nicht beobachtet, dass er sich mühsam bewegt oder bestimmte
Bewegungen gar nicht ausführen kann. Er kann allein laufen und auch
essen und damit meine ich: Er kann ohne Hilfe laufen und so essen,
dass der Tisch hinterher keinem Schlachtfeld gleicht. Trotzdem zieht
er es vor, gefüttert zu werden. Wenn niemand in seiner Nähe steht,
isst er meistens brav allein, wenn ich aber neben ihm sitze, um ein
anderes Kind zu füttern, dann stupst er mich immer an, damit ich ihn
füttere oder ihm zumindest den Löffel wieder voll mache. Er weiß
auch genau, wann er essen will und was und zeigt das auch deutlich –
hat er keinen Hunger mehr, steht er einfach auf. Ja, manchmal kommt
er später noch mal wieder und es gelingt einem, ihm noch einen
Happen Brot oder einen Löffel Suppe in den Mund zu schieben.
Schmeckt ihm etwas besser als der Rest, zeigt er die ganze Zeit
drauf, will er trinken – und er will sehr oft und sehr viel trinken
– dann läuft er zum Essenswagen oder greift nach dem Becher. Sein
Bedürfnis nach viel Zutrinken hängt wiederum mit seiner Krankheit
zusammen. Eine
Teilerkrankung des Lowe-Syndroms ist die selektive proximale
Tubulopathie, d.h. eine Funktionsstörung des proximalen Tubulus. Für
alle, die in Bio nicht so gut aufgepasst haben: Als proximalen
Tubulus bezeichnet man das Hauptstück der Nierenkanälchen, in dem
große Mengen Kalium-, Calcium- und Chlorid-Ionen, Glukose oder
Eiweiße resorbiert und Hydrogencarbonate sezerniert werden. Durch
die Dysfunktion verlieren die Erkrankten anormal schnell diese
wichtigen Substanzen und deshalb stellt eine Dehydratisierung eine
besonders große Gefahr für die dar. Auch sind sie bis zum
Lebensende auf viele Medikamente angewiesen. Unser Staś
bekommt
zu jeder Mahlzeit 1-3 Medikamente, darunter Kaliumchlorid (um
einer Hypokaliämie vorzubeugen),
eine Phosphat-Mischung
(um die Rachitis einzudämmen, die u.a. für Stanisławs
Froschbauch verantwortlich ist, eine durch Vitamin-D- und
Calcium-Mangel hervorgerufene Schlaffheit der Bauchmuskulatur) und
Piracetamum, das bei Myoklonie (rhythmischen Muskelzuckungen, u.a.
bei Epilepsie) und zur Anregung der Sauerstoffverwertung im Gehirn
gegeben wird, um die Konzentration zu fördern und Antriebslosigkeit
abzuschwächen. Nebenwirkungen können jedoch allergische
Hautreaktionen sein und wenn diese aufgekratzt werden und schlecht
verheilen (immerhin ist Staś
ein
Kind), bleiben raue Narben zurück, weshalb sein ganzes Hautbild
schlecht ist. Seine Hände sind von einer bräunlichen, ledrigen
Hornhaut
bedeckt und
an seinen Fingern sind ganz viele blutig gekratzte Dellen.
Auch
bei Spaziergängen zieht
Staś
es
vor,
im Rollstuhl geschoben zu werden und das auch bitte im zügigen
Tempo, denn wenn man mal anhält, um auf die „langsamen Fußgänger“
zu warten, wird er schnell unruhig und quengelt rum. Seine
Vorliebe für das schnelle Fahren ist seinem Bedürfnis für
Stimulation geschuldet. Durch das stark eingeschränkte Sehfeld und
die Anstrengung bei aus eigenen Antrieb vollführten Bewegungen
lieben Lowe-Syndrom-Kinder die Stimulation von außen, weil es
Abwechslung bringt und für sie wie ein spannender Film ist. Deshalb
besteht Stanisławs
Rehabilitation
auch aus einer Abfolge von Stimulationen, sei es Schaukeln, auf einem
Hüpfeball Hüpfen oder auf einer flachen Rollbrett Liegen und
Herumfahren. Seltsamerweise zeigt Staś
nie
Interesse an der Hängematte in unserem Gruppenraum, man muss ihn
quasi zu seinem Glück zwingen und ihn einfach immer mal
hineinhieven.
Besonders
überraschend war für mich seine Sprachtherapie. Er arbeitet mit
einem Computerprogramm, das ganz einfach gestrickt ist, es zeigt
Animationen zu einer kleinen Auswahl von Begriffen wie Zug, Auto,
Brücke, Giraffe oder Indianer. Paulina, die Logopädin, stellt Staś
dann
immer die Aufgabe, aus zwei Motiven eines zu wählen. Dann muss er
auf den Bildschirm drücken und mit jedem Berühren kommt ein Detail
des Motivs hinzu, sodass er das Bild zu dem gewählten Wort quasi
selbst aufbaut. Ist das Bild fertig aufgebaut, folgt eine kleine
Animation, also das Auto fährt oder die Giraffe frisst. Nun werden
verschiedene Fragestellungen benutzt, um verschiedenen Fähigkeiten
zu trainieren oder zu überprüfen, so muss Staś
z.B.
das von ihm gewählte Motiv aus zwei Bildern noch einmal auswählen,
um seine Wahl zu bestätigen, oder er bekommt zwei Gegenstände
(Spielzeugauto, Spielzeugzug) und muss dann noch einmal das richtige
Motiv auswählen. Manchmal beginnt Paulina eine Animation und zeigt
Staś
dann
zwei Bilder und er soll voraussagen, welche Animation jetzt folgen
wird. Wenn er ein Tier wählt, soll er sagen, was das Tier frisst.
Und dann zur Überprüfung soll er noch zeigen, was das Tier mit dem
Gegenstand macht (also essen, gehen, etc.). Nach Vollenden der
Animation muss er alle Zettel und Gegenstände immer an Paulina
zurückgeben, bevor die nächste kommt. Er liebt das! Und er hat
erstaunlicherweise immer alles richtig gemacht, weshalb ich mich
fragte, warum er nicht an unserem Gruppenunterricht teilnimmt, aber
das gefällt ihm vermutlich einfach nicht. Auch in dieser von ihm so
geliebten Therapie fing seine Konzentration nach etwa 15min an
nachzulassen, weil es ihn nicht mehr genug stimuliert hat.
Wie
aufgezeigt ist das Lowe-Syndrom nicht heilbar. Mit verschiedenen
medikamentösen Therapien kann man lediglich versuchen, die
Niereninsuffizienz herauszuzögern, Glaukom und Katarakt lassen sich
operativ behandeln, Physiotherapie gilt eher der Stimulation der
Kinder als dem Aufhalten ihrer Erkrankung und so liegt die
Lebenserwartung durchschnittlich bei 30 bis 40 Jahren, vielleicht 10%
der Kinder sterben aber schon bis zum zehnten Lebensjahr.
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