Samstag, 22. November 2014

Meine Arbeit, meine Kinder: Stanisław und das Lowe-Syndrom

Es wird Zeit, dass ich mein erstes Kind vorstelle. Wir haben in unserem Kindergarten gleich zwei Buben mit einer extrem seltenen Behinderung, dem Lowe-Syndrom. Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser X-chromosomal vererbten Multisystemerkrankung geboren zu werden, liegt bei etwa 0,00002%, d.h. bei etwa jeder 50.000te kommt es zum Ausbruch. Durch die X-chromosomale Vererbung sind (fast) ausschließlich Jungen betroffen und zwei von vier Lowe-Syndrom-Jungen in Polen verbringen ihren Tag mit uns, einer in meiner Gruppe, Stanisław oder kurz einfach nur Staś.
Staś ist ein süßer Junge mit kurzen, blonden Haaren, einem kleinen Froschbäuchlein (was wohl auch an seiner Vorliebe liegt, nur die Wurst vom Brot zu essen und das Brot wieder aus seinem Mund zu pulen) und einer grünen Brille, an der eine Seite zugehangen ist. Die ersten drei Tage meiner Arbeit hatten wir noch eine Schildkröte in unserem Raum und er lag den ganzen Tag nur vor dem Aquarium und schaute sich das Tierlein an. Auch den Fisch-Aquarien in der blauen und gelben Gruppe kann er viel abgewinnen – während andere Kinder sich über das ungewohnte Spielzeug freuen, wenn sie in einen neuen Raum kommen, stellt sich Staś prompt vor den hell erleuchteten Glaskasten und schaut gespannt hinein und man muss ihn beim Zurückgehen regelrecht von der Scheibe wegzerren. Das hängt natürlich mit dem Syndrom zusammen. Von der Erkrankung sind z.B. die Augen betroffen. Alle Kinder werden bereits mit Katarakt (grauem Star) geboren, der sich bereits in utero (in der Gebärmutter) entwickelt hat. Etwa 50% der Kinder haben auch ein Glaukom (grünen Star), weshalb sie schlecht sehen können und teure Spezialbrillen tragen müssen. Staś sieht außerdem auf den linken Auge schlechter, weshalb er das Augenlid nicht richtig öffnet. Deshalb ist sein rechtes Auge abgedeckt, damit er gezwungen ist, das linke zu benutzen und die Muskeln trainiert. Die fortschreitende Blindheit hat zur Folge, dass die Kinder bei normalem Licht kaum sehen. Je stärker die Lichteinstrahlung aber ist, desto eher können sie etwas erkennen. Deshalb liebt Staś es, vor den hell erleuchteten Aquarien zu stehen, weil das für ihn wie Kino ist, weil er endlich mal etwas sehen kann, weil das für ihn ein sehr großes WOW-Erlebnis ist.

Als unsere Schildkröte ausziehen musste, weil sie zu groß geworden war und einen ausgedehnteren Lebensraum brauchte, machte Staś sich eine Spielzeugschildkröte zu eigen, die Musik spielt, wenn man auf verschiedene Tasten drückt. Diese Musik ist sehr laut und spielt ununterbrochen, sodass ich schon nach einem Tag jede Melodie mitsingen konnte. Wenn wir gerade Unterricht haben und die Schildkröte am Kopf ausgedreht wird, sucht er sich eben ein neues Musikspielzeug davon haben wir wahrlich genug und dann tönt statt „Oh, du lieber Augustin“ eben „Old MacDonald has a farm“ durch den Raum.
Trotz seiner Liebe zu Musikspielzeugen mag er den alltäglichen Musikunterricht nicht. In dieser Musikstunde kommen die Kinder aus 3 Gruppen zusammen und wir hören uns zusammen polnische Kinderlieder an, jeder, der kann, singt auch mit, und wir animieren die Kinder zum Tanzen oder zu zum Lied passenden Bewegungen. Durch die Bewegungen fällt es den Kindern leichter, sich an die Lieder zu erinnern und außerdem verstehen sie so besser, worum es geht. Staś aber fängt an zu speckern, wenn der Raum immer voller wird und je lauter wir singen und je heftiger wir tanzen, desto eher läuft er zur Tür und versucht abzuhauen oder er setzt sich in die Ecke, hält sich die Ohren zu und weint sogar. Der andere Junge mit Lowe-Syndrom kommt gar nicht erst, weil auch ihm der Musikunterricht nicht gefällt. Warum das so ist, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht fühlen sie sich von der Menschenmenge überfordert, eigentlich gelten Lowe-Syndrom-Jungen aber als sehr kontaktfreudig.
Ja, unser Staś ist nicht sehr kontaktfreudig, eher ein eigenbrötlerischer Einzelgänger. Durch seine geistige Behinderung kann er nicht sprechen, obwohl er manchmal wortähnliche Laute von sich gibt, sodass ich ihm durchaus Chancen ausgemalt hätte, das Sprechen noch zu lernen. Seine Logopädin Paulina meint aber, dass er nicht sprechen lernen wird. Dafür kann er mit seinen 7 Jahren einfach zu wenige Laute erzeugen, die in der polnischen Sprache vorkommen und wenn er Laute von sich gibt, sind sie nur selten realen Wörtern ähnlich – seine „Sprache“ ist nicht funktional. Er weist aber auch Verhaltensstörungen auf, z.B. legt er sich, wenn er sich freut, auf den Rücken, gakelt mit den Armen in der Luft herum und gibt lachend-glucksende Geräusche von sich. Wenn man aber etwas tut, was ihm nicht gefällt (wenn man ihn also nicht aus dem Raum gehen lässt, ihm seine Schildkröte nicht anmacht oder sich sogar anmaßt, ihm zum Essen ein Lätzchen umzubinden), dann lässt er sich auf den Boden fallen, kullert sich schreiend herum oder haut sich mit der einen flachen Hand auf den Kopf, während er gleichzeitig in die andere Faust beißt. Man sollte ihn dann besser nicht durch Festhalten von seinem Verhalten abzubringen versuchen, sondern einfach alle gefährlichen Gegenstände aus seiner Nähe entfernen und ihn sich abreagieren lassen. Ich denke, dass das bereits eine Vorstufe zu den epileptischen Anfällen ist, die viele Erkrankte etwa ab dem 18ten Lebensjahr regelmäßig haben.

Während viele Lowe-Syndrom-Kinder mit einer ernsthaften Muskelhypotonie geboren werden, d.h. besonders ihre quergestreifte Muskulatur ist schwach und steht zu wenig unter Spannung, habe ich bei Staś noch nicht beobachtet, dass er sich mühsam bewegt oder bestimmte Bewegungen gar nicht ausführen kann. Er kann allein laufen und auch essen und damit meine ich: Er kann ohne Hilfe laufen und so essen, dass der Tisch hinterher keinem Schlachtfeld gleicht. Trotzdem zieht er es vor, gefüttert zu werden. Wenn niemand in seiner Nähe steht, isst er meistens brav allein, wenn ich aber neben ihm sitze, um ein anderes Kind zu füttern, dann stupst er mich immer an, damit ich ihn füttere oder ihm zumindest den Löffel wieder voll mache. Er weiß auch genau, wann er essen will und was und zeigt das auch deutlich – hat er keinen Hunger mehr, steht er einfach auf. Ja, manchmal kommt er später noch mal wieder und es gelingt einem, ihm noch einen Happen Brot oder einen Löffel Suppe in den Mund zu schieben. Schmeckt ihm etwas besser als der Rest, zeigt er die ganze Zeit drauf, will er trinken – und er will sehr oft und sehr viel trinken – dann läuft er zum Essenswagen oder greift nach dem Becher. Sein Bedürfnis nach viel Zutrinken hängt wiederum mit seiner Krankheit zusammen. Eine Teilerkrankung des Lowe-Syndroms ist die selektive proximale Tubulopathie, d.h. eine Funktionsstörung des proximalen Tubulus. Für alle, die in Bio nicht so gut aufgepasst haben: Als proximalen Tubulus bezeichnet man das Hauptstück der Nierenkanälchen, in dem große Mengen Kalium-, Calcium- und Chlorid-Ionen, Glukose oder Eiweiße resorbiert und Hydrogencarbonate sezerniert werden. Durch die Dysfunktion verlieren die Erkrankten anormal schnell diese wichtigen Substanzen und deshalb stellt eine Dehydratisierung eine besonders große Gefahr für die dar. Auch sind sie bis zum Lebensende auf viele Medikamente angewiesen. Unser Staś bekommt zu jeder Mahlzeit 1-3 Medikamente, darunter Kaliumchlorid (um einer Hypokaliämie vorzubeugen), eine Phosphat-Mischung (um die Rachitis einzudämmen, die u.a. für Stanisławs Froschbauch verantwortlich ist, eine durch Vitamin-D- und Calcium-Mangel hervorgerufene Schlaffheit der Bauchmuskulatur) und Piracetamum, das bei Myoklonie (rhythmischen Muskelzuckungen, u.a. bei Epilepsie) und zur Anregung der Sauerstoffverwertung im Gehirn gegeben wird, um die Konzentration zu fördern und Antriebslosigkeit abzuschwächen. Nebenwirkungen können jedoch allergische Hautreaktionen sein und wenn diese aufgekratzt werden und schlecht verheilen (immerhin ist Staś ein Kind), bleiben raue Narben zurück, weshalb sein ganzes Hautbild schlecht ist. Seine Hände sind von einer bräunlichen, ledrigen Hornhaut bedeckt und an seinen Fingern sind ganz viele blutig gekratzte Dellen.
Auch bei Spaziergängen zieht Staś es vor, im Rollstuhl geschoben zu werden und das auch bitte im zügigen Tempo, denn wenn man mal anhält, um auf die „langsamen Fußgänger“ zu warten, wird er schnell unruhig und quengelt rum. Seine Vorliebe für das schnelle Fahren ist seinem Bedürfnis für Stimulation geschuldet. Durch das stark eingeschränkte Sehfeld und die Anstrengung bei aus eigenen Antrieb vollführten Bewegungen lieben Lowe-Syndrom-Kinder die Stimulation von außen, weil es Abwechslung bringt und für sie wie ein spannender Film ist. Deshalb besteht Stanisławs Rehabilitation auch aus einer Abfolge von Stimulationen, sei es Schaukeln, auf einem Hüpfeball Hüpfen oder auf einer flachen Rollbrett Liegen und Herumfahren. Seltsamerweise zeigt Staś nie Interesse an der Hängematte in unserem Gruppenraum, man muss ihn quasi zu seinem Glück zwingen und ihn einfach immer mal hineinhieven.

Besonders überraschend war für mich seine Sprachtherapie. Er arbeitet mit einem Computerprogramm, das ganz einfach gestrickt ist, es zeigt Animationen zu einer kleinen Auswahl von Begriffen wie Zug, Auto, Brücke, Giraffe oder Indianer. Paulina, die Logopädin, stellt Staś dann immer die Aufgabe, aus zwei Motiven eines zu wählen. Dann muss er auf den Bildschirm drücken und mit jedem Berühren kommt ein Detail des Motivs hinzu, sodass er das Bild zu dem gewählten Wort quasi selbst aufbaut. Ist das Bild fertig aufgebaut, folgt eine kleine Animation, also das Auto fährt oder die Giraffe frisst. Nun werden verschiedene Fragestellungen benutzt, um verschiedenen Fähigkeiten zu trainieren oder zu überprüfen, so muss Staś z.B. das von ihm gewählte Motiv aus zwei Bildern noch einmal auswählen, um seine Wahl zu bestätigen, oder er bekommt zwei Gegenstände (Spielzeugauto, Spielzeugzug) und muss dann noch einmal das richtige Motiv auswählen. Manchmal beginnt Paulina eine Animation und zeigt Staś dann zwei Bilder und er soll voraussagen, welche Animation jetzt folgen wird. Wenn er ein Tier wählt, soll er sagen, was das Tier frisst. Und dann zur Überprüfung soll er noch zeigen, was das Tier mit dem Gegenstand macht (also essen, gehen, etc.). Nach Vollenden der Animation muss er alle Zettel und Gegenstände immer an Paulina zurückgeben, bevor die nächste kommt. Er liebt das! Und er hat erstaunlicherweise immer alles richtig gemacht, weshalb ich mich fragte, warum er nicht an unserem Gruppenunterricht teilnimmt, aber das gefällt ihm vermutlich einfach nicht. Auch in dieser von ihm so geliebten Therapie fing seine Konzentration nach etwa 15min an nachzulassen, weil es ihn nicht mehr genug stimuliert hat.

Wie aufgezeigt ist das Lowe-Syndrom nicht heilbar. Mit verschiedenen medikamentösen Therapien kann man lediglich versuchen, die Niereninsuffizienz herauszuzögern, Glaukom und Katarakt lassen sich operativ behandeln, Physiotherapie gilt eher der Stimulation der Kinder als dem Aufhalten ihrer Erkrankung und so liegt die Lebenserwartung durchschnittlich bei 30 bis 40 Jahren, vielleicht 10% der Kinder sterben aber schon bis zum zehnten Lebensjahr.

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